Grenzüberschreitung

Ich habe in den vergangenen Jahren mehrere Grenzen überschritten. Im ganz eigentlichen, also tatsächlich über Landesgrenzen hinaus reisenden Sinn und auch auf persönlicher und einer damit etwas weniger greifbaren Ebene.

Im Juli 2019 habe ich eine Freundin von ganz früher in London besucht. Ganz leicht ging das. Nachdem ich meinen inneren Kampf zugunsten der Reise ausgehen leiß, waren nicht mehr viele Hürden zu nehmen. Ich hatte mir schon im Vorhinein erlaubt, Spaß zu haben, zu viel Wein zu trinken und ausgelassen zu tanzen, das war also eigentlich alles recht unspektakulär. Anstelle von Grenzgedanken, habe ich mich ganz und gar der Tatsache hingegeben, dass es Menschen gibt, die mit uns verbunden bleiben, komme was wolle.

Als ich auf meinem Platz im Flieger saß, da kam ich nicht umhin über das Leben, die Liebe und den Tod nachzudenken. Hier, so dachte ich dabei, muss die Freiheit wohl tatsächlich grenzenlos sein. Warum mir das im wirklichen Leben so schwerfällt, das kann ich noch nicht einmal genau bestimmen. Diese Leichtigkeit, die ich mit dem Himmel verbinde und die mich jedes Mal einholt, wenn das Flugzeug mit mir gemeinsam abhebt, die wünsch ich mir auch in meinen Alltag. Einfach mal kurz abheben, um dann ganz woanders wieder zu landen, das dürfte doch eigentlich nicht so schwer sein. Auch ohne Flieger nicht!

Grenzen überschreiten, das ist ganz leicht, das schaffe ich nahezu täglich. Sei es nun im eigentlichen, sich auf Reisen begebenden und allgemein verständlichen Sinn, oder im Verständnis des Zu-weit-Gehens, auch darin bin ich Meisterin meines Tuns. In jenen Momenten, in denen meine Familie mein Gefühlschaos zu spüren bekommt zum Beispiel. Wenn sich meine Wut auf die ganze Welt sammelt, um sich anschließend irgendwo anders abzulagern wie lästiger Kalk, dann überschreite ich Grenzen, von denen ich mir wünschte, ich würde es nicht tun. Wenn ich einer flüchtigen Bekannten unmissverständlich zu verstehen gebe, dass ich mein Seelenleben nicht vor ihr auskotzen werde und sie sich doch bitte um anderen Klatsch bemühen soll, dann gehe ich in meiner forschen Ausdrucksweise wohl ein wenig zu weit. Der Kern der Sache ist aber schon weniger grenzüberschreitend, da ich mich dabei – entgegen allgemein betrachteter Anstandsformen – ja eigentlich nur selber schütze. Mich selbst quasi an erste Stelle setze – die Grenzüberschreitung schlechthin.

Jeden Morgen fordere ich mich heraus, zu diesem Leben, das ich mir nicht ausgesucht habe. Sage mir, dass es sich lohnt, eine neue Ordnung zu schaffen und allem seinen Platz zu geben. Auch dem nicht mehr Greifbaren. Ich baue Brücken, im Leben und darüber hinaus. Immer wieder aufs Neue, werde ich den Tod schultern und mich dem Leben stellen. Ich werde Grenzen überschreiten und ich werde Grenzen sprengen. Die Trauer begleitet mich auf meinem Weg und das ist gut so. Nicht alles im Leben muss immer schön sein, das habe ich verstanden. Und ich habe gelernt, dass Schmerz der Preis ist, den wir für die Liebe bezahlen.

Das ist die wohl größte Errungenschaft, die ich mir zugestehe, die weitreichendste Grenze, die ich jemals überschreiten werde: Ich bin mutig genug zu lieben, obwohl ich den Schmerz kenne.

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