Harry Potter und die Welt der Magie

Lesen ist meine Leidenschaft, das war schon im Kindergarten so. Tage, in denen ich kein Buch in der Hand hatte, nicht wenigstens vor dem Einschlafen noch schnell ein paar Zeilen gelesen habe, fühlen sich irgendwie nicht richtig an. Ich verliere mich in Geschichten, lasse mich auf die wildesten Abenteuer ein und reise um die ganze Welt. Immer wieder aufs Neue. Lesen ist meine Leidenschaft. Punkt.

Ja, das war immer so. Bis zu jenem Tag, an dem einfach alles anders wurde. An dem ich mir plötzlich nicht mehr vorstellen konnte, jemals wieder ein Buch zu lesen. Angewidert betrachtete ich meinen Kindle, der mich eigentlich gut durch die Nacht hätte bringen können. An Schlaf war nicht zu denken, aber an lesen noch viel weniger. Wie konnte ich mich nun auf etwas einlassen, dass so oberflächlich war, so weit hergeholt oder – noch schlimmer – so sehr der Wahrheit entsprach. Bestimmt würde ich nie wieder einen Roman lesen können, in dem jemand stirbt. Oder auch nicht stirbt. Das „happy ending“ stellte ich mir fast noch schlimmer vor, als die Grausamkeit des Verlustes. Nein, ich konnte einfach nicht. Eigentlich könnte ich die Bücher ja auch gleich aus dem Regal räumen, den Kindle mit der nächsten Sperrmüllladung entsorgen! Zumindest dachte ich das, in den ersten Tagen nach der Schreckensnachricht.

Dann kamen die Trauerbücher. Zahlreiche Bücher und Autorinnen wurden mir ans Herz gelegt, Begriffe wie Trauerjahr und Trauerphasen gehörten plötzlich zu meinem Alltag. Zwei Wochen nachdem sich mein ganzes, bisheriges Leben auf den Kopf gestellt hatte, wagte ich den Blick in mein erstes Buch. Ich erinnere mich daran, dass ich mitten in der Nacht aufstand, weil ich noch immer nur sehr unregelmäßig schlafen konnte und das kleine Buch mit dem Titel Über den Tod und das Leben danach, von Elisabeth Kübler-Ross in einem Zug durchgelesen habe. Ich habe es gehasst.

Das war es also, was die Literatur mir zu bieten hatte? Das sollte mir Trost spenden oder gar mein Vertrauen ins Leben wiederherstellen? Ich war verwirrt und verärgert, wollte von Trauerphasen nichts mehr hören und fühlte mich so allein, wie selten zuvor. Vermutlich fühlte ich mich auch von jener Welt verlassen, in der ich schon als Kind stets Zuflucht gefunden hatte, wenn mir das wirkliche Leben zu anstrengend wurde. Nicht einmal die Welt der Bücher stand mir noch offen. Wie sollte das alles nur weitergehen?

Dann bekam ich Harry Potter in die Finger. Zufällig entdeckte ich die illustrierte Ausgabe, die ich meiner Familie fast zwei Jahre zuvor geschenkt hatte und begann zu schmökern. Wenig später hatte ich mir Harry Potter und der Stein der Weisen heruntergeladen und begann zu lesen. Die Geschichte brachte mich mehr oder weniger sicher durch die folgenden zwei Nächte und ich war wirklich froh, dass hier noch 6 weitere Bücher auf mich warteten. Ich konnte nicht genug von J. K. Rowling bekommen, sog die magische Welt, die sie erschaffen hatte, geradezu auf. Diese Welt, die mit meiner so gar nichts gemein hatte, die so fiktiv war, dass sie es selbst mir, einem zutiefst traurigen Menschen erlaubte, mich darin fallen zu lassen. Ich las die ganze Potter Reihe. Wenn ich zurückblicke, dann war es vermutlich ein kleiner Zufluchtsort, eine kleine Pause. Und es war mein Einstieg zurück in ein Leben voller Bücher, das kann ich heute mit Sicherheit sagen.

Erst fast ein Jahr später entdeckte ich den Titel Es ist ok, wenn du traurig bist, indem die Autorin Megan Devine Harry Potter erwähnt. „Ich glaube, darin lag auch der gewaltige Erfolg der Harry-Potter-Bücher begründet,“ schreibt sie. „Die waren düster. J. K. Rowling tauchte in diese Düsternis ein und beschönigte sie nie als hübsch oder süß. Nicht alles geht am Ende gut aus, obwohl es am Ende durchaus Schönheit gab. In Rowlings Welt existierten Verlust, Schmerz und Trauer, und man wurde nicht erlöst, sondern man ertrug sie.“

Ich erinnere mich noch daran, wie sehr diese Worte in mir räsonierten. Das machte einfach so viel Sinn. Für mich war es vermutlich eine Kombination aus Beidem. Die erschaffene Welt rund um den jungen Zauberer Potter ließ mich abtauchen und kurz an einem Ort verweilen, der nichts mit meiner Realität zu tun hatte und stellte doch, wenngleich recht unbewusst, einen direkten und unverblümten Bezug zu meinem Leben dar. Ja, nicht alles geht immer gut aus. Und manche Dinge lassen sich schlicht nicht wieder reparieren. Nicht bei Harry Potter und schon gar nicht im wirklichen Leben.

Wir brauchen das. Geschichten, die das Leben schreibt, die ehrlich sind und Dinge ansprechen. In denen auch weniger schöne Themen ihren Platz bekommen. Oder, um es in Megan Devines Worten zu sagen: „Indem wir bessere Geschichten erzählen, schaffen wir eine Kultur, die weiß, wie man zuhört, dem anderen zur Seite steht und präsent ist für etwas, das sich niemals transformieren lässt. Indem wir bessere Geschichten erzählen, lernen wir, bessere Gefährten zu werden, uns selbst und einander.“

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