Ich weine, weil ich traurig bin

Als Kind wurde mir beigebracht, dass es nicht immer angemessen ist zu weinen. Oder überhaupt meine Gefühle zu zeigen. Manchmal da war es aber auch ganz ok, besonders wenn es um die „guten“ Gefühle ging. Glücklich sein, das ging eigentlich immer. Mit traurig war es schon etwas schwieriger. Und zornig ging dann schon fast gar nicht mehr. Als Mama von drei kleinen Kindern weiß ich, dass die Gründe für Tränen sehr vielschichtig sind. Und dass auch bei weitem nicht jedes Kind weint, um sich auszudrücken. Ich versuche da zu sein und die Tränen oder auch Nicht-Tränen als das anzunehmen was sie sind. Bemühe mich, nicht einzugreifen und schon gar nicht zu kategorisieren. Die guten und die schlechten Gefühle, die gibt es nämlich so nicht. Ein Konstrukt der Gesellschaft vielleicht, um Emotionen besser kontrollieren zu können. Wohin das geführt hat, darüber lässt sich wohl streiten.

Was aber, wenn man als Erwachsene plötzlich das Bedürfnis hat, Gefühle wieder an die Oberfläche zu holen? Was, wenn es einfach nichts anderes gibt, als das eigene Innenleben, die eigene Stimme, mit allen Höhen und Tiefen, auf die man sich verlassen kann? Ich musste einsehen, dass ich keinen Einfluss darauf habe, was in meiner Welt geschieht. Auf NICHTS. Nur auf mich selber.

Um ganz ehrlich zu sein, traue ich mir manchmal selber nicht dabei. Auch meine Muster wurden in all den Jahren darauf ausgelegt, mich anzupassen. Auch im Kampf des Nicht-Anpassens, des rebellischen Sich-nicht-einfügen-Wollens, fügen wir uns in bestimmte Schienen ein. Lassen Dinge Einfluss nehmen, auf unser tägliches Tun und bauen uns eine Welt, in der wir meinen ganz gut zurecht zu kommen. Wir alle tun das. Setzen mühevoll Stein auf Stein, bis wir das Gefühl haben, dass es gut ist. Dass wir uns wohlfühlen. Auf der Welt, im täglichen Leben, in unserer Haut.

Dann kommt der Tod. Schlägt ein wie eine Bombe. Und unser mühsam zusammengesetztes Leben bricht in sich zusammen. Lässt nichts mehr über von dem, was uns so wichtig war. Wenn wir Glück haben, dann stehen wir auf einem guten Fundament, von wo aus wir von Neuem beginnen können. Irgendwann. Falls wir jemals wieder die Kraft dazu finden.
Ich bin traurig – ich weine. Ich bin zornig – ich weine. Ich sehe keinen Ausweg. Und ich weine. Noch immer frage ich mich, ob die Tränen jemals aufhören werden. Irgendwann, so hat man mir schon so oft gesagt, werde ich nicht mehr so traurig sein. Das glaube ich nicht. Denn das ergibt einfach keinen Sinn. Solange ich bin, ist mein Bruder nicht. Solange ich lebe, gibt es da einen Teil von mir, der fehlt. Für immer fehlt. Ich glaube nicht daran, dass die Trauer vergeht. Sie wird andere Formen annehmen, sich in anderen Schattierungen zeigen vielleicht, aber verschwinden wird sie nicht.

Das Komische daran ist: Mir macht das keine Angst. Ich möchte die Trauer in mein Leben integrieren, denn sie steht für etwas. Ich bin traurig, weil mein Bruder nicht mehr bei mir ist. Weil er mir fehlt. Ein geliebter Mensch ist tot, aber das heißt nicht, dass er im Leben keinen Platz mehr haben darf. Er ist ein Teil von mir. Das war schon immer so und das wird auch auf ewig so bleiben. Der Tod kann mir das nicht wegnehmen. Und wenn die Last zu schwer wird, wenn der Verlust mich überwältigt und die Sehnsucht mich zu ersticken droht, dann weine ich.

Ich weine, weil ich traurig bin. Und das ist gut so.

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