Lebensretter Stift & Papier

In der Schule waren Aufsätze nicht unbedingt meine Stärke und daher habe ich mich auch nie wirklich im Schreiben versucht. Bis ich es musste. Es war einen Tag nach dem Tod meines Bruders, als man mir zum ersten Mal nahelegte, ich solle doch ein Trauertagebuch führen. Aufschreiben, was ich fühle, damit ich dann später schauen könne, wie sich die Gefühle verändern, so lautete der Rat. Dabei würde ich nicht nur aufschreiben wie es mir so ginge, sondern könne auch immer wieder darauf zurückgreifen, um zu sehen, wie weit ich schon gekommen sei. Wie ich meine Trauer ja doch Schritt für Schritt bewältigen würde, wenngleich unbewusst. Denn, so sagte uns die Trauerbegleiterin damals, Trauerbewältigung sei wichtig. Noch etwas, das angeblich wichtig war.

Ich mochte die Frau nicht. Woran ich mich am meisten erinnere ist, dass sie nicht zugehört hat. Und dass ich eigentlich nur schreien wollte. An Tagebuchschreiben war nicht zu denken und außerdem, so dachte ich, würde ich bestimmt keinen Rat von jemandem annehmen, den ich nicht ausstehen konnte. Ein paar Wochen später kaufte mir mein Mann ein Notizbuch. Ein sehr schönes Buch, mit der Aufforderung es zu benutzen. Ihm glaubte ich, er kannte den Schmerz des Verlustes, wusste um die Machtlosigkeit im Angesicht des Todes und war sich auch der Kraft des geschriebenen Wortes bewusst. In erster Linie aber vertraute ich dem Menschen an meiner Seite aus einem ganz anderen Grund: Er war da und er hörte mir zu.

Ich merkte sehr schnell, dass Zuhören den Menschen um mich herum nicht leicht viel. Oft wurde ich mit Ratschlägen überhäuft und noch viel öfter konnte ich meine Sätze gar nicht erst zu Ende Sprechen. Also sagte ich irgendwann nichts mehr. Und fing stattdessen an zu schreiben. Briefe in den Himmel. Post an den Menschen, der mir so sehr fehlte. Gelesen habe ich sie noch nie, diese Briefe, die ich seit seinem Tod regelmäßig schreibe. Denn in erster Linie ist das leere Blatt Papier weder ein Trauerbegleiter noch ein Helfer der sogenannten Trauerbewältigung, sondern einfach ein verdammt guter Zuhörer.

Ich schreibe, weil es mir guttut. Ich schreibe, weil mir eigentlich überhaupt nichts anderes übrigbleibt. Und ich lerne mich dabei mit jedem Wort ein bisschen besser kennen. Stift und Papier haben mir das Leben erträglich gemacht, in einer Zeit, in der das sonst niemand konnte. Das allein ist Grund genug nicht mehr damit aufzuhören.

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