Sei doch nicht immer so glücklich!

Im Sommer 2019 habe ich eine Freundin in London besucht, die ich seit über 10 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Erkenntnis, dass es Beziehungen gibt, die über ein ganzes Leben bestehen können, war einfach wundervoll. In der Zeit nach dem Tod meines Bruders sind mir sehr viele Menschen „abhanden gekommen“ und es tat gut zu sehen, dass nicht alle Brücken brechen. Hier war ein Mensch, der nicht nur verstört zur Seite blickte, wenn ich mein Innerstes auspackte und in Tränen ausbrach, sondern stumm meine Hand hielt und den Schmerz ertrug. Wenn es nur mehr von dieser Sorte gäbe, habe ich mir dabei oft gedacht.

Dabei bin ich mir ja recht sicher, dass es sie schon gibt, diese Leute, die mit Trauer und Leid genauso gut umgehen können wie mit den rosigen Zeiten des Lebens. Es muss sie geben. Vermutlich, so kommt mir manchmal der Gedanke, vergesse auch ich in meiner Trauer, dass ich nicht die Einzige bin, die leidet. Vergesse, dass wohl nahezu jeder einen eigenen Rucksack zu tragen hat, die Einen leichter, die Anderen schwerer. Wenn dem aber so ist, dann stellt sich mir die Frage, wieso wir uns angeeignet haben all das Unschöne, Raue, Verstörende oder Schmerzliche in einen abgeschotteten Winkel zu packen. Wann im Leben lernen wir, den weniger schönen Gefühlen nur dann Ausdruck zu verleihen, wenn wir uns sicher sind, dass uns niemand dabei zusieht? Warum nur können wir als Gesellschaft mit Tod und Trauer so überhaupt nicht umgehen?

Im Angesicht der Trauer scheint es unserer Umgebung sehr viel leichter zu fallen, den Blick abzuwenden. Oder, falls das gerade nicht geht, mit gut gemeinten Ratschlägen aufzutrumpfen. „Das wird schon wieder!“ oder „Die Zeit heilt alle Wunden!“ oder ein kaum zu überbietendes „Er hätte bestimmt nicht gewollt, dass du so traurig bist!“. Meistens reagiere ich auf diese Situationen trotzig oder gar verärgert. Ich möchte meinem Gegenüber sagen, dass er oder sie keine Ahnung hat. Dass die Zeit wohl magischer Fähigkeiten bedürfte, um alles wieder in Ordnung zu bringen und sie sich ihre Belehrungen doch sonst wohin stecken sollen.

Ich weiß, das ist nicht immer fair. Freunde, Verwandte und Bekannte wissen es schlicht nicht besser, so wird mir häufig gesagt. Es überfordert sie. Ja, das mag sein, und doch lass ich es als Ausrede nicht gelten. Als ich geheiratet habe, da gab es nicht einen einzigen Menschen, der nicht mit der Situation umgehen konnte. Da war niemand, dem ich zu glücklich erschien. Keiner, der nicht wusste, wohin mit mir und all dieser überschwänglichen Freude und Liebe. Eine ganze Hochzeitsgesellschaft, die gefeiert hat. Gelacht, getanzt, getrunken, die ganze Nacht. Jeder wollte ein Stück dieses Glücks mit mir teilen. Auch noch lange nach dem wunderbaren Tag haben unsere Gäste darüber gesprochen und sich gefreut. Niemals hat mir dabei jemand auf die Schulter geklopft und gesagt „Jetzt solltest du aber wirklich einmal ein wenig zurückdrehen. Schließlich bist du ja jetzt schon seit ein paar Monaten verheiratet und solltest dich besser an den Gedanken gewöhnen. So viel glücklich sein ist nicht gut für dich!“

Warum nur, können wir den Schmerz und die Trauer nicht ebenso annehmen wie das Glück und die Freude? Leider habe ich keine Antwort darauf. Eines weiß ich aber schon: Nicht alle haben Angst vor den schweren Gefühlen. Nicht jeder wendet den Blick ab, wenn die Trauerwelle zuschlägt. Klar, manchmal wünschte ich, es wären mehr. Aber anstatt mich darauf zu konzentrieren, versuche ich meinen Fokus auf jene Freunde zu lenken, die da sind. Die, denen meine Gefühle keine Angst machen. Das, so glaube ich, sind die Menschen, auf die ich bauen sollte. Das sind die Menschen, die mich tragen.

Themen